Alpenüberquerung zu Fuß in 120 Tagen

Reisebericht von Andreas Hildebrand am 17. Mai 2021

Andreas Hildebrand hat das turbulente Jahr 2020 genutzt und sich auf eine viermonatige Reise gemacht mit dem Ziel, die Alpen zu Fuß zu überqueren. 120 Tage, 2000 Kilometer und 100.000 Höhenmeter später hat er es geschafft – Nizza ist in Sicht. Im Interview erzählt er ausführlich von seiner Route, allen Höhen und Tiefen und seinen persönlichen Tipps für eine Alpenüberquerung.

© Andreas Hildebrand

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Lieber Andreas, Du hast dir ganze vier Monate Zeit genommen, die Alpen zu Fuß zu überqueren. Wie kamst du auf diese Idee?

Die Idee für eine Alpenüberquerung von Ost nach West kam mir an einem dafür wohl unwahrscheinlichen Ort, nämlich einem Krankenhausbett in Stuttgart. Die Diagnose lautete: Meniskusriss, linke Knieinnenseite. Vier Wochen im Bett und eine Menge Zeit neue Pläne zu schmieden waren die Folge. Ich malte mir aus, wie ich zusammen mit meinem Freund Rudi die Alpen der Länge nach überqueren würde, immer dem Hauptkamm folgend. Dafür würde es sich doch lohnen wieder fit zu werden! Nach einer langen Zeit in Physiotherapie und einer Lektion in Sachen Geduld konnte ich mit dem Training für die Alpenüberquerung beginnen. Dieses Ziel hat mir sehr geholfen meine alte körperliche Verfassung wieder herzustellen.

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Von Wien nach Nizza hast du dich auf den Weg gemacht und hunderte Kilometer zurückgelegt. Kannst du uns einen kurzen Einblick in deine Route geben?

In Wien begannen wir zu zweit unsere Alpenüberquerung. Von hier führten uns verschiedene lokale Fernwanderwege durch Niederösterreich, bis wir schließlich bei Hohentauern auf den Zentralalpenweg stießen. Dem längsten Fernwanderweg Österreichs folgten wir durch die Niederen Tauern, hier verletzte sich mein Weggefährte und ich war von nun an auf mich allein gestellt. Auf dem Zentralalpenweg durchquerte ich die Steiermark, Kärnten, Tirol, sowie die Hohen Tauern. Es waren etwa 900 Kilometer und 38 Wegtage für die Durchquerung Österreichs nötig.

In die Schweiz gelangte ich über die Silvrettagruppe und durchwanderte das Engadin, Tessin und Wallis – hier folgte ich abseits der Fernwanderwege meiner eigenen Route. Die Durchquerung der Schweiz dauerte 29 Wegtage und etwa 650 Kilometer. Mit dem Mont-Blanc im Blick und dem längsten Wegstück hinter mir, ging es von nun an schnurstracks südwärts Richtung Mittelmeer und hinein in den Nationalpark Vanoise, wo mich zwanzig Centimeter Neuschnee erwarteten und nach einer Alternativroute verlangten.

Schließlich durchwanderte ich die bereits herbstlichen Grajischen und Cottischen Alpen. Die Tage wurden hier bereits deutlich kürzer und die Nächte kälter. Glücklicherweise fanden sich in Italien eine Menge Biwakschachteln auf dem Weg, welche die Nächte deutlich angenehmer machten. Allein die Italienischen Seealpen trennten mich nun noch vom Mittelmeer. Vierzehn Wegtage nachdem ich die Schweiz verlassen hatte, genoss ich ein verdientes Fußbad in der Italienischen Riviera und mit Porto Maurizio die erste Stadt mit über 10.000 Einwohnern seit Wien. Bis hier waren es nochmals 450 Kilometer. In Summe bin ich in 120 Tage inklusive Ruhetagen etwa 2.000 Kilometer und 100.000 Höhenmeter gewandert.

Wie bist du bei deinen Vorbereitungen vorgegangen? War es für dich eine eher intensive Vorbereitungsphase oder bist du spontan und auf gut Glück gestartet?

Ich denke bei der Vorbereitung ist es wichtig flexibel zu denken. Man sollte auf der einen Seite, bevor man mit der Tour beginnt genau wissen, in welches Gelände und auf welchen Weg man sich begibt. Es macht einen großen Unterschied, wenn ein Klettersteig, ein Gletscher, oder ein Berggipfel auf dem Weg liegt. Die Herausforderung eines Weges entspricht jedoch nicht allein dem technischen Schwierigkeitsgrad und der Wahl der Ausrüstung, sondern zusätzlich einer Kombination aus den Wetterbedingungen, der Tageszeit, sowie der Geländeart an sich (Wald, Geröll, Schnee und Gletscher).

Es ist im Hochgebirge wichtig, möglichst all diese Faktoren einzuschätzen, um eine Entscheidung treffen zu können. Nebel ist auf einem gut markierten, befestigtem Wanderweg halb so schlimm, ohne sichtbare Spur ist es deutlich schwieriger, und im Schnee verliert man bei Nebel schnell die Orientierung. Am Nachmittag möchte man schwierige Wegstellen bereits hinter sich haben, da gerade im Sommer zu dieser Tageszeit Hitzegewitter zum Alltag gehören. Es ist also wichtig für die Sicherheit, spontan Situationen beurteilen zu können und Entscheidungen zu treffen, die wenigsten sind dabei vorhersehbar. Bei Tagesetappen zwischen fünfzehn und vierzig Kilometer Wegstrecke wird schnell klar, dass eine langfristige Planung der Etappen fast nicht einzuhalten ist.

Um das Thema Ausrüstung kurz anzuschneiden. Ich bin mit einer Mischung aus traditioneller und ultraleichter Trekkingausrüstung losgezogen und auch angekommen. Ich hatte zu jeder Zeit ein GPS-Gerät mit Notruffunktion (PLB) dabei - meiner Meinung nach, zusammen mit einem Biwaksack, ein Muss bei alpinen Mehrtagestouren.

Welche Wege, Wanderungen, Gipfel und Abschnitte waren für dich deine persönlichen Highlights?

Nach einer so langen Zeit des Wanderns bleibt eine unglaubliche Menge an Eindrücken zurück. Generell ist bereits jeder Pass eine kleine Überraschung für sich, da man nicht weiß, was auf der anderen Seite wartet. Beispielsweise stieg ich über ein enges Tal zum Zwischbergenpass (3268m) auf, oben angekommen präsentierte sich von einem Augenblick auf den anderen die gesamte Bergprominenz des östlichen Wallis mit einem Dutzend 4000er unter strahlend blauem Himmel. Der perfekte Platz für Haferflocken mit Quellwasser.

Ein weiteres Highlight der Strecke war auf jeden Fall der Gipfel des Hochgolling (2862m) in den Niederen Tauern Österreichs und damit quasi zu Beginn meiner Wanderung. Mit einer Wanderschwierigkeit von T4-5 die erste große alpine und mentale Herausforderung auf der Wanderung. Er würde den Ton für die kommenden Monate setzen. Vom Gipfel aus konnte ich einen unvergesslichen Rundumblick genießen: Auf der einen Seite der Weg zurück Richtung Wien, auf der anderen die ersten Gletscherberge und die Hohen Tauern am Horizont.

In den letzten Wochen der Wanderung gelangte ich in die Cottischen Alpen zwischen Frankreich und Italien. Es war bereits Herbst und Tourismus war kaum noch vorhanden. Die meisten Herbergen und Campingplätze haben in der Zwischensaison geschlossen. Kaum ein Wegabschnitt war so abgeschieden und dünn von Menschen besiedelt. Für mich sind das ganz besondere Erfahrungen.

Was waren für dich die größten Herausforderungen innerhalb dieser vier Monate?

Die große Herausforderung dieser Wanderung zeigte sich mir nicht sofort, sie machte sich allmählich über Wochen bemerkbar. Wenn man sich ein Ziel setzt und versucht es zu erreichen, wird es Tage geben, die nicht den Erwartungen entsprechen. In den ersten zwei bis drei Monaten passierte dies häufiger, als ich mir gewünscht hätte.

Mein Weggefährte Rudi musste verletzungsbedingt frühzeitig umkehren - ich selbst hatte gelegentlich kleinere Wehwehchen, die immer mal wieder ein paar Tage Pause bedurften. Das allein kann sehr anstrengend werden: Warten zu müssen, vor dem Hintergrund, dass jeder Tag Pause das Ende der Wanderung weiter in den Herbst schiebt.

Aber nicht nur dem Körper musste ich Pausen nach Tagen des Wanderns gewähren, dem Kopf ebenfalls. Dinge, wie das umschlagende Wetter, können mental recht fordernd werden. Die Frage, ob man will, oder nicht stellt sich hier gar nicht erst. Ebenso wenn die Füße dich in neue Länder bringen, aber du dich im Kopf einfach noch nicht bereit fühlst, einer neuen Umgebung und anderen Sprachen zu begegnen.

Nach Tagen der körperlichen und mentalen Entbehrungen tropft die Motivation förmlich aus einem heraus und jegliche Inspiration ist verflogen. Du drehst dich um, und stellst fest: Gestern war es auch nicht anders. Das sind echte Tiefpunkte. Sich auf ein Ziel fokussieren zu können, alles dafür zu geben, Willenskraft zu beweisen, ist mit Sicherheit eine großartige Eigenschaft, doch zu viel davon und du brennst aus. Das ist eine Grenze, die ich gespürt habe. Das eigene Ego kann in solchen Fällen dein größter Gegner werden.

In all dem wollte ich jedoch meine Begeisterung, für das, was ich tue nicht verlieren. Ich habe gelernt, nicht zu viel von mir zu verlangen und gleichzeitig ein Muster in meinen Tagesablauf zu bringen. Das hört sich jetzt vielleicht nach einer simplen Erkenntnis an, aber es war ein harter Prozess bis dahin und ich denke der Kern ist recht menschlich und findet sich auch in Situationen des Alltags wieder. Zuletzt bin ich sehr dankbar diese Erfahrung gemacht zu haben. Ich habe etwas für mich geschaffen, das mich von nun an definiert.        

Kannst du uns von besonderen Momenten erzählen, die diese Reise für dich ausgemacht haben?

Eine der schönsten Erinnerungen war ein stilechtes Weißwurscht-Abendessen mit der Familie eines Hüttenwirts. Bei Regen und Nebel verbrachte ich als einziger Gast einen Ruhetag auf der Hütte in den Niederen Tauern. Am späten Nachmittag nahm ich dankbar die Einladung der Familie an, beim gemeinsamen Abendessen dabei zu sein. Es gab Weißwürschte und Laugengebäck, dazu Senf, das wars und mehr braucht es ja auch nicht. Das gute Essen und Gespräche über die sonderbaren Eigenheiten der Nachbartals-Bewohner sorgten für gute Laune und hinterließen eine wunderbare Erfahrung in Sachen Gastfreundschaft.

Ein anderes Mal hatte wohl der pure Zufall seine Finger im Spiel. Ich hatte mir als Tagesziel eine kleine Selbstversorger-Hütte rausgesucht, wunderbar gelegen, hoch im Tal, umringt von Dreitausendern, mit Gletscherblick. Alle meine Anforderungen an eine gute Herberge waren damit erfüllt, aber was natürlich noch wichtiger ist, als ein schöner Blick, ist die Gesellschaft. Birgit und Manfred waren bereits auf der Hütte und warteten das wechselhafte Wetter ab. Wie sich schnell herausstelle, sind sie ebenfalls Alpenüberquerer und das ebenfalls von Ost nach West. Unter Gleichgesinnten fühlt man sich doch direkt wohl. So hatten wir wunderbare Gespräche über vergangene Touren, Ausrüstung und Pläne für die Alpenüberquerung.

Am vorletzten Tag meiner Wanderung hatte ich noch einmal richtig Glück. Es war an einem Vormittag in den Seealpen, ich hatte an diesem Tag noch keine Menschenseele gesehen, und plötzlich tauchte über mir am Himmel ein großer Greifvogel auf. Ich beobachtete ihn, er drehte nicht all zu weit entfernt seine Kreise, deutlich größer als die anderen Vögel am Himmel. Später stellte ich fest, dass es sich um einen Steinadler handelte. In Zeiten des Artensterbens sind solche Begegnungen besonders faszinierend.

Wie und wo hast du deine Nächte verbracht? Hast du dich vom Tag treiben lassen oder hattest du bereits alles im Voraus geplant?

Nach einer Weile hatte sich ein gewisser Rhythmus bei der Etappenplanung eingespielt: Ich würde die nächsten zwei Tagesetappen grob vorausplanen. Wichtige Fragen, die ich mir gestellt habe sind vor allem: Wo gibt es Wasser und Essen auf der Strecke? Wie ist der Wetterbericht für die Alpen? Wo sind etwaige Schwierigkeiten im Gelände? Dies alles sind Sicherheitsaspekte, die man im alpinen Gelände auf jeden Fall beachten sollte. In diesem Rahmen kann man sich dann allerdings frei bewegen und treiben lassen.

Wo ich meine Nächte verbracht habe? Am liebsten habe ich natürlich biwakiert, also im Zelt oder in einer Biwakschachtel übernachtet, soweit es erlaubt war. Aber prinzipiell habe ich vieles als Schlafplatz durchgehen lassen: vom Zelten in alpinen Lagen, über gemütliche Berghütten, Biwakschachteln bis über 3200m Hohe, modrige Scheunen, Kirchen, einmal genoss ich den Luxus eines Hotels und ein anderes mal diente auch ein ungenutzter Skikeller in einem Apartment-Gebäude als Unterschlupf für die Nacht, da sämtliche Herbergen des Skidorfs geschlossen waren und draußen ein leichter Schneesturm tobte.

Zu zweit seid ihr gestartet und leider musstest du deine Reise alleine beenden. Was hat dich dazu bewegt, deinen Plan nicht zu verwerfen und dich weitere drei Monate alleine auf den Weg zu machen?

Zwei Wochen nachdem wir gestartet sind passierte es, dass mein Freund Rudi auf einem feuchten Berghang ausrutschte und sich am Fußgelenk verletzte. Schnell war klar, dass die Verletzung einige Wochen andauern würde, bis sie ausgeheilt ist. Das hieß für mich, dass ich eine Entscheidung treffen musste: Entweder wieder nach hause fahren und anderen Zielen folgen, oder an dem Vorhaben die Alpen von Ost nach West zu überqueren festzuhalten und es alleine zu probieren. Für mich sind solche Vorhaben nicht ganz neu - ich hatte bereits den Winter in den Southern Alps auf der anderen Seite des Globus verbracht, ebenfalls auf mich allein gestellt. Ich hatte eine Vorstellung davon, worauf es ankam und welche Risiken ich eingehen würde. Nachdem mich Rudi bestärkte trotzdem weiter zu gehen, stand für mich der Entschluss fest.

Gibt es für dich etwas, das du – wenn du noch einmal die Alpen überqueren solltest – anders machen würdest?

Bei einer so großen sportlichen Herausforderung ist es meiner Erfahrung nach wichtig, sich nicht im Erreichen des eigenen Ziels zu verlieren. Es passiert leicht, dass man alles, was am Tag passieren kann dem Erreichen des Ziels, der Tagesetappe, oder final dem Mittelmeer unterordnet. Ich habe bald für mich herausgefunden, dass mir das nicht gut tut. Das eigentliche Ziel ist es doch seine Zeit zu genießen und Erfahrungen zu machen, wie viele Kilometer man gegangen ist rückt in den Hintergrund. Ich denke dessen sollte man sich immer bewusst sein.

Und was wären deine Tipps für all diejenigen, die mit dem Gedanken spielen, dieses Abenteuer zu wagen?

Allen, die mit dem Gedanken spielen ebenfalls von Ost nach West über die Alpen zu gehen kann ich nur raten: Tut es! Viele Wege führen von Wien nach Nizza, für jeden ist einer dabei. Es ist weniger unmöglich, als es scheinen mag.


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Andreas Hildebrand

Andreas atmet gerne frische Luft und erfühlt den Untergrund barfuß. Eine enge Beziehung zur Natur war ihm schon immer wichtig. Er arbeitet im kreativen Bereich und hat dieses Jahr ein Diplom in Industriedesign absolviert. Sein neues Ziel nach der Alpenüberquerung ist, die Fotografie zu seinem Beruf zu machen.

@andi.hil


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