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Wandern im hohen Norden Europas

Interview mit Martin Hülle am 13. September 2021

Schon zu Schulzeiten waren Kamera und Notizblock Martins ständigen Begleiter auf der Suche nach spannenden Geschichten, Reportagen und Dokumentationen. Heute ist Martin Hülle Naturfotograf, Autor zweier Fotobücher und ein mit allen – eisigen –Wassern gewaschener Outdoor-Abenteurer. Zu Fuß und mit Ski hat er auf unzähligen Touren bereits tausende Kilometer in atemberaubenden Gegenden des Nordens zurückgelegt.

Das Nordlandfieber und der Arktis-Bazillus sind für ihn alte Bekannte, die er sicherlich nie mehr loswird. In seinem neuen Band “Another Time, Another Place” erzählt er über die Sehnsucht nach dem Norden, seine Entwicklung zum erfahrenen Wanderer und seine Liebe zur Einsamkeit in der Wildnis.

Was war der Anstoß für Dein neues Reiseprojekt und Fotobuch "Another Time, Another Place"?

Nach meinem ersten mehrjährigen Foto- und Buchprojekt „Mein Norden“, einer Liebeserklärung an raue Landschaften, karge Regionen und eine intensive Art des Unterwegsseins, wollte ich die nächsten Schritte tun und meinem Drang, nach wie vor einen Fuß vor den anderen setzen zu müssen, Grenzen zu erforschen und tief einzutauchen in eine Welt voller Geheimnisse, fotografisch und textlich nachspüren.

Denn auch heute verdichten sich für mich alle Unwägbarkeiten des Lebens in wilder Natur. Es ist mein größtes Glück, immer wieder aufbrechen zu können. An immer neue Orte. So machte ich mich erneut auf den Weg, Impressionen und Gedanken zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit einzufangen. Intime Momente voller Liebe und Melancholie.

Du bist seit 30 Jahren auf den Wanderwegen und Gipfeln dieser Welt unterwegs. Welches waren die Highlights Deines Wanderer-Lebens?

In all der langen Zeit sind natürlich einige herausragende Erlebnisse zusammengekommen. Ein erstes Highlight war sicherlich meine erste Winterdurchquerung des Sarek-Nationalparks im hohen Norden Schwedens. 1994 hatte ich noch nicht allzu viel Erfahrung, wagte mich dennoch kurz vor dem Abitur allein in diese von Mythen umwobene Region und kam trotz mancher Schwierigkeit durch.

Zwei Jahre später lief ich ebenfalls im Winter über den Wonderland Trail rund um den Mount Rainier im US-Bundesstaat Washington, obwohl mir von den Rangern vor Ort davon abgeraten worden war. Der 800 Kilometer lange Nordkalottleden quer durch Lappland war daraufhin meine längste Tour, die mich über 50 Tage intensiv in die Natur eintauchen ließ.

Es folgten Gletschertouren über den Jostedalsbreen in Norwegen und den Vatnajökull auf Island, bevor zwei Überquerungen des grönländischen Inlandeises von Ost nach West – die Grönland Transversale 2006 und die Expedition EISWÜSTE 2008 – die größten Meilensteine in meinem Leben als „Polarabenteurer“ wurden.

Aber auch danach folgten weitere einmalige Erfahrungen wie Skitouren in der Polarnacht über den schwedischen Kungsleden oder hinein in die Berg- und Gletscherwelt Spitzbergens in der Arktis.

Es sind allerdings nicht nur die namhaften Ziele, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind. Es sind die unzähligen kleinen Momente in wilder Einsamkeit, die sich zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Dieses Mosaik hat mich geprägt und mein Leben reich gemacht.

Welche Dinge hast Du über Dich selbst in diesen 30 Jahren gelernt?

Vor allem, wie wichtig das Draußensein für mich ist. Ich brauche es wie die Luft zum Atmen. Zudem, wie gut ich mit mir alleine zurechtkomme und dass dieses Alleinsein in der Menschenleere immer mal wieder nötig für mich ist, um den Kopf klar zu bekommen und eine Zeit lang ganz ich selbst sein zu können.

Aber nicht zuletzt habe ich darüber hinaus gelernt, wie viel ich erreichen kann, wenn ich meine Ziele nur beharrlich verfolge. Schon während meiner ersten Schritte im hohen Norden träumte ich von einer Grönland-Expedition. 15 Jahre später sollte sie schließlich wahr werden, denn auch so manche Stolpersteine und Rückschläge hatten mich nicht davon abgehalten, jahrein, jahraus Erfahrungen zu sammeln, immer besser zu werden und diesen Traum irgendwann in die Tat umzusetzen.

Wie erklärst Du für Dich die Faszination für den Norden, die viele Menschen verspüren?

Bereits bei meiner ersten Tour zu Beginn der Neunzigerjahre, als ich auf dem Kungsleden, Schwedens berühmten „Königspfad“, von Abisko nach Kvikkjokk wanderte, brannte sich die nordische Einsamkeit sofort tief in mir ein. Auch wenn es mir damals manchmal noch schwerfiel, das Alleinsein zu ertragen, war ich gleichsam fasziniert von der Landschaft und der Freiheit, über Berge und durch Täler zu schreiten. Es war der Beginn einer Leidenschaft, die bis heute ungebrochen ist und über die Jahre sogar immer stärker wurde. Bald machte mir die anfangs oft bedrückende Einsamkeit nichts mehr aus, und so langsam gehörte ich zu jenen Menschen, denen zwei Wanderer in einem Tal bereits einer zu viel sind.

Im Sommer zu Fuß oder im Winter mit Ski tage- oder gar wochenlang in die Wildnis aufzubrechen, die Natur über einen großen Zeitraum fern der Zivilisation am eigenen Leib zu spüren, verleiht dem Unterwegssein eine hohe Intensität. Und ich muss auch sagen, dass für mich die oft harschen Wettersituationen eine besondere Faszination der nordischen Landschaften ausmachen. Mich als Wanderer mit den Elementen zu arrangieren oder sie als Fotograf in Bildern festzuhalten, ist für mich immer wieder Herausforderung und Glückseligkeit zugleich.

Wenn Du den jungen Martin, der in den Alpen mit seinen Eltern gewandert ist, mit der heutigen Version vergleichst – ist es noch dieselbe Person? Was hat sich gravierend geändert?

Im Herzen ist es noch dieselbe Person. Mit demselben Drang, immer wieder aufzubrechen. Voller unstillbarer Träume, die sicherlich nie versiegen werden. Aber die Person ist kein Greenhorn mehr, sondern mittlerweile reich an Erfahrungen. Was sich in meinen Anfangstagen als riesige Abenteuer vor mir aufbäumte, hat heute an Schrecken verloren.

Gleichwohl sind die Zeiten von Sturm und Drang vermehrt durch Ruhe und Genuss abgelöst worden. Ging es mir zu Beginn darum, die eigenen Grenzen auszuloten und das Extreme zu suchen, überwiegt heute der Wunsch, einfach noch so lange wie möglich draußen unterwegs sein zu können und die Natur und die wilden Landschaften zu erleben.

Welchen Einfluss hatte Deine Epilepsie-Diagnose auf Deine Wanderungen und Deinen Beruf als Fotograf?

Als mich die Krampfanfälle im Frühjahr 2012 zweimal aus heiterem Himmel zu Boden rissen und die Diagnose Epilepsie gestellt wurde, geriet mein Wandererleben für einen Moment aus den Fugen. Dieser Einschnitt wurde allerdings rasch zu einem Grundstein meines weiteren Werdegangs.

Ich träumte noch einmal alles neu, brach auf zu den wundervollen Orten, die mir von Anbeginn so viel bedeuteten und spürte gleichzeitig Neuland auf, das ich seit jeher einmal erkunden und erleben wollte. Es war ein Wendepunkt – die sportlichen Ziele rückten mehr und mehr in den Hintergrund, dafür nahm die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Unterwegssein Überhand.

Das Medikament, welches ich nach wie vor täglich nehme, scheint aber gut zu wirken und ich hatte keine weiteren Anfälle mehr. Die Krankheit schränkt mich hier zum Glück nicht ein und in all der zurückliegenden Zeit trat die Epilepsie völlig in den Hintergrund.

Heute wanderst Du auch mit Frau und Tochter, was ist der Reiz des Wanderns mit der ganzen Familie? Wie erlebst Du diese Zeit?

Als Familie die Wildnis zu entdecken, ist das Schönste, was wir gemeinsam erleben können. Es sind wundervolle Touren, bei denen die Essenz des Draußenseins vollkommen zum Vorschein kommt. Die Natur in all ihren Kleinigkeiten zu entdecken, auf Felsen zu kraxeln, zu schlendern und zu genießen, im Hier und Jetzt zu leben, oftmals ohne die ganz großen Wanderziele. Zusammen bei Wind und Wetter unterwegs zu sein, Herausforderungen zu meistern und zu sehen, wie meine Tochter daran wächst, ist wunderbar.

Welche Tour(en) würdest Du unbedingt nochmal erleben wollen?

Vor 20 Jahren wanderte ich mit einem Freund entlang der Küste und Berge der Halbinsel Hornstrandir in den isländischen Westfjorden. Es war ein unbeschreibliches Erlebnis in einer abgeschiedenen, kaum besuchten und wunderschönen Landschaft. Lange Zeit träumte ich davon, dorthin einmal zurückzukehren.

Doch mittlerweile ist die Region aufgrund erhöhten Besucheraufkommens nicht mehr so, wie sie einst war. Zelten ist nur noch an ausgewiesenen Stellen erlaubt, Freiheiten sind eingeschränkt. Daher werde ich diese Region wohl in meiner Erinnerung hüten, weil eine Wiederkehr sicherlich niemals ein so starkes Erlebnis wie damals hervorbringen würde.

Anders ist es mit Schwedisch Lappland. Dem Kungsleden, dem Sarek, dem Padjelantaleden. Der Region, in der für mich alles seinen Anfang nahm und die mir mehr als alle anderen am Herzen liegt. Es ist meine zweite Heimat, in die ich unbedingt zurückkehren möchte, um ihr vielleicht einmal ein eigenes Foto- und Buchprojekt zu widmen.

Und zum Abschluss: Was würdest Du jungen ambitionierten Nord-Wanderern mit auf den Weg geben?

In der heutigen Zeit ist es in meinen Augen besonders wichtig, darauf Acht zu geben, nicht zu einem Jäger zu werden und bloß darauf aus zu sein, allseits bekannte Spots aufzusuchen und abzuhaken. Besonders unter Fotografen ist diese Spezies weit verbreitet, die nur zum Ziel hat, das abzulichten, was man woanders schon gesehen hat. Lieber wird man zum Sammler und Entdecker und begibt sich auf die Suche nach Stimmungen. Denen in der Landschaft und denen in sich selbst.


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